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Wo die Seele aus dem Alltag lernt

Marktheidenfeld (POW) Auf den ersten Blick wirkt es fast etwas unscheinbar und klein, das Haus mit dem kräftigen Blauton in der Marktheidenfelder Friedensstraße 14. In seinem Innern wird viel bewegt – in und mit Menschen. Hier hat das „Lehrhaus für Psychologie und Spiritualität, Institut Simone Weil“ seinen Sitz, offenbart ein Schild am Eingang. Das Konzept das sich hinter dem Titel verbirgt: Den Alltag als Potenzial entdecken – für die Entwicklung der Persönlichkeit, für die eigene Spiritualität. Neue Zugänge finden zu dem, was der allgegenwärtige Leistungsdruck und in Frage gestellte Sinnzusammenhänge vielen Menschen verbauen.
 
In der Tradition des jüdischen Lehrhauses wird seit 1996 im Marktheidenfelder Lehrhaus für Psychologie und Spiritualität „aus dem Leben gelernt“, betont die katholische Diplomtheologin Ruth Seubert, Gründerin des Lehrhauses. In ihrer Arbeit orientiert sie sich am Konzept des Philosophen Franz Rosenberg. Dieser gründete 1920 in Frankfurt das erste „Freie jüdische Lehrhaus“ in Deutschland. Es verband die Tradition der jüdischen Bildung mit den Grundsätzen moderner Erwachsenenbildung. So schuf er eine Plattform, auf der gleichberechtigte Partner, unter anderem Martin Buber und Erich Fromm, über drängende Fragen der Zeit nachdachten, redeten und stritten. „Wir haben diese Bildungstradition aufgegriffen, weil auch jetzt wieder eine Zeit des Umbruchs stattfindet, die viele Anfragen mit sich bringt“, sagt Seubert. Den Namen der französischen Philosophin, Widerstandskämpferin und Mystikerin Simone Weil trage das Haus, weil Aufmerksamkeit auf die alltägliche Wirklichkeit der Schlüsselbegriff im Leben der 1943 gestorbenen Frau gewesen sei: „Aufmerksam geworden auf das Leiden, die Sehnsucht und die Schönheit ist bei Simone Weil das Interesse an der Welt der Religion gewachsen. Ohne einer Religion anzugehören entdeckt sie die christliche Mystik.“
 
In ihrer Methodik orientiert sich die Ausbildungsleiterin und Lehrhaus-Chefin Ruth Seubert am pädagogisch-therapeutischen Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Das hat sie Anfang der 70er Jahre direkt bei seiner Erfinderin gelernt, der US-Amerikanerin Ruth C. Cohn. TZI ist eine Methode von Gruppenarbeit, die lehrt, wie sachliche, kommunikative und persönliche Anforderungen in Balance gebracht werden können. Cohn kombinierte dabei in origineller Weise Erfahrungen aus der Psychoanalyse mit der Gruppendynamik und systemischer Kommunikationspsychologie. Ruth Seubert hat dieses Konzept weiterentwickelt. Bei der „tiefenpsychologisch fundierten Themenzentrierten Interaktion“ (tfTZI) geht es zusätzlich noch darum, die Tiefenkräfte der Seele zu erhellen und zu entwickeln. „Die Methode bietet Hilfe an, sich das bewusst zu machen, was der eine oder die andere schon unbewusst weiß.“ Seubert legt Wert auf therapeutisches Aufarbeiten von seelischen Altlasten, die aus der eigenen Lebensgeschichte resultieren: „Nur befreite und entfaltete Begabungen befähigen zur Selbstorganisation und zur sachlichen Leistung.“
 
Dieser Überzeugung sind inzwischen auch zahlreiche Orden und deren Generalkapitel, die in Marktheidenfeld oder bei sich Kurse unter Ruth Seuberts Leitung besuchen. Zu den Klienten gehörten darüber hinaus ein großes Versandhaus und eine internationale Versicherung. Deren Manager und Führungskräfte laden Ruth Seubert zu Kompaktseminaren ein, bei denen sie sich Orientierungsrichtlinien aufzeigen lassen. „Allem was wir hier machen, liegt das jüdisch-christliche Menschenbild zugrunde“, betont Seubert. Deswegen zielen alle angebotenen Maßnahmen nicht nur auf die Entwicklung einer selbstkritischen und glaubwürdigen Persönlichkeit. In den Kursen arbeiten Seubert und ihr Team darauf hin, dass die Teilnehmer zum Dialog mit den Menschen befähigt werden. „Nicht zuletzt geht es auch darum, die Seminarteilnehmer zur Mitgestaltung ihres beruflichen und gesellschaftlichen Umfeldes zu bewegen“, sagt Seubert. Zu ihrem Credo gehört, dass jeder Mensch durch seine persönliche Bindung an Gott erst seine volle Autonomie und Mitverantwortung für das öffentliche Leben erlangt.
 
„Wir sind sehr froh darüber, dass es diese Einrichtung gibt. Sie erfüllt eine wichtige Dolmetscherfunktion, wenn es darum geht, die Sprachprobleme im Zusammenhang mit Spiritualität zu überwinden“, sagt Domvikar Paul Weismantel, Leiter der Diözesanstelle für Berufe der Kirche in Würzburg. Er lobt besonders die Bemühung des ohne Diözesanmittel arbeitenden Lehrhauses, Glaube und Welt miteinander in Beziehung zu setzen und auch den Austausch mit nichttheologischen Wissenschaftsdisziplinen zu suchen. Mitglieder ganz unterschiedlicher Berufsgruppen werden im Institut zusammengeführt und bereichern sich so gegenseitig. Darin sieht die Leiterin Ruth Seubert eine besondere Chance. Das gilt insbesondere für die drei Jahre dauernde Ausbildung zum tfTZI-Pädagogen beziehungsweise zur tfTZI-Pädagogin, welche das der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie (IGT) und der European Association for Psychotherapy angeschlossene Haus anbietet. Diese umfasst etwa 700 Trainingsstunden an rund 85 Kurstagen. Für Interessenten finden mehrmals im Jahr Orientierungsseminare statt, die mit der Methode bekannt machen. Die Methode ist patentrechtlich geschützt für die Bereiche Ausbildung und Erziehung, Gesundheitspflege und wissenschaftliche Forschung.
 
Wer mindestens drei Jahre Erfahrung in seinem Beruf mitbringt und keine neurotische Persönlichkeitsstörung hat, lernt während der Ausbildung neben der speziellen Seubert’schen Arbeitsmethode auch klassische Felder der Psychologie wie Gruppendynamik, tiefenpsychologische Persönlichkeitstheorie und Krisenintervention. Dabei legt Ruth Seubert nach ihren Worten größten Wert darauf, dass die Teilnehmer der zwischen zwölf und 16 Personen großen Gruppen die Methoden sowohl in Selbsterfahrung als auch in der beruflichen Arbeit kennen lernen und anwenden. „Das Allerpersönlichste ist zugleich von politischer Bedeutung“, erläutert die Lehrtherapeutin. Da verwundert es den Besucher des Instituts auch nur wenig, wenn er im Seminarraum unterm Dach die Tür öffnet, an der ein großes Schild den Weg zum Notausgang signalisiert. Dahinter verbirgt sich die kleine Hauskapelle mit Altar, Kreuz und Tabernakel – und der Weg zur Nottreppe. Spiritualität und Psychologie sind im Institut Simone Weil eben in besonderer Weise bodenständig.
 
(0602/0177)